Bericht vom 11. Palliativfachtag am 18.09.2024
Der Teilnehmerbericht ist im Winterrundbrief des Hospizvereins Leipzig e.V. erschienen. Wir veröffentlichen hier die Langversion:
Am 18. September 2024 veranstaltete das Palliativnetzwerk für Leipzig und Umgebung nun schon zum elften Mal seinen Palliativfachtag in der Kulturscheune des Klosters Nimbschen – in diesem Jahr stand der Tag unter dem Motto Balance finden. Ab 9 Uhr kamen die Teilnehmer, die sich für die verschiedenen Workshops angemeldet hatten, auf dem schönen Gelände des Klosters Nimbschen zusammen. Nach der Einschreibung begannen gegen 9.30 Uhr die fünf Workshops, über die dann nach der Mittagspause und zum Beginn des Symposiums die Referenten berichteten. Die Pausen konnten wir im Freien und bei schönstem Sonnenschein, gutem Essen und vielen Gesprächen verbringen.
Die Workshops
Wickel und Auflagen - Uta Wilke
Selbstfürsorge, Resilienz und Burnout-Prävention - Annegret Majer
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde erläuterte sie, dass sie das „Pferd von hinten aufzäumen“ wolle, also thematisch beginnend mit Burnout, dann das Thema Resilienz und an das Ende die Selbstfürsorge stellen würde. Anhand von zahlreichen Folien erläuterte Frau Majer das Burnout-Syndrom: Es geht um Stress und Stressbewältigung. Der akute Stress wird nach kurzer Zeit abgebaut, wenn man über funktionierende Bewältigungsstrategien verfügt. Chronischer Stress führt ins Burnout mit seinen letztlich nicht erfolgreichen Bewältigungsversuchen und dem Verlust der Erholungsfähigkeit. Dazu gehört die Erschöpfung durch zu viel Mitgefühl und gleichzeitig fehlende psychische und emotionale Ressourcen, die in Zynis­smus und ein Gefühl der Wirkungslosigkeit umschlagen kann. Und je nach Beanspruchung fühlt man sich überfordert und ausgelaugt oder unterfordert und gelangweilt. Frustration entsteht durch Motiv-Vereitelung und diese kann im Motiv-Verlust münden. Anhaltender Stress wird oft als Bedrohung empfunden. In Dreier-Kleingruppen konnten wir nun das soeben Gehörte noch einmal persönlich besprechen und Erfahrungen teilen.
Zum Thema Resilienz fand eine kleine Befragung der Gruppe an der Tafel statt, um herauszuarbeiten, welche Themen in dieser Gruppe am wichtigsten sind. Die Teilnehmerinnen arbeiteten zu einem großen Teil in einem stationären Hospiz, auf einer Palliativstation, bei einem SAPV oder wenige bei einem ambulanten Hospizdienst. Es waren auch ehrenamtlich tätige Hospizhelferinnen anwesend. Die Themen Stress und Schwierigkeiten bei der Abgrenzung spielten die größte Rolle, auch in den nachfolgenden Gesprächen. Resilienz zeichnet sich dadurch aus, dass man für sich individuelle Möglichkeiten der Erholung findet, die auch zur jeweiligen Art der Beanspruchung (Ermüdung, Monotonie, Frustration, Sättigung, Stress) passen.
Frau Majer erläuterte nun, dass es emotionsorientierte (Entspannung, Vermeidung, Ablenkung, Suche nach Trost) und handlungsorientierte (problemlösendes Handeln, Verändern der Situation, Veränderung des Kommunikationsverhaltens u.a.) Bewältigungsstrategien gibt. Jeder muss für sich herausfinden, welche Strategie die jetzt geeignete ist und auch zu einem passt. Frau Majer ging noch kurz auf den Begriff der Salutogenese ein, also dem individuellen Entwicklungs- und Erhaltungsprozess von Gesundheit und dem Zusammenhang mit der individuellen Resilienz (nach A. Antonowsky). Zentral ist dabei die Erfahrung von Kohärenz, also dem Gefühl von Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit und stabilen Bindungserfahrungen.
Nun fand in der Großgruppe ein Austausch über die Möglichkeiten der Selbstfürsorge statt, die oft genug mit einem „Ja, aber ich muss doch aber…“ und damit einhergehendem schlechten Gewissen verbunden ist. Die Sorge um die Patienten, fehlende Wertschätzung von Kollegen und mangelnde Abgrenzung können Selbstfürsorge ver- oder behindern.
In der Abschlussrunde nannte jede Teilnehmerin die Anregungen und Impulse, die sie gerne aus diesem Workshop mitnehmen möchte. Das sind u.a. das Dankbarkeitstagebuch, geregelte Zeit, Naturerlebnisse, Intervision, Perspektivwechsel, um Hilfe bitten können, freundlich sein, Dankbarkeit der Patienten, Grenzen setzen, die Arbeit strukturieren, das Telefon ausstellen, priorisieren, Tür zu!, bessere Körperwahrnehmung.
Auf den Tod einlassen - Isabel Kalis
Als Pflegekraft mit gesundem Rücken durch den Alltag - Franziska Kuhn
Mit Advanced Care Planning (ACP) zur besseren Patientenverfügung - mit Andre Nowak und RA Frank Hirschkorn
Die Vorträge
Die rechtliche Betreuung im Kontext Pflege, Vorstellung der Tätigkeit des Berufsbetreuers - Eik Schieferdecker
Nach dem alten Betreuungsgesetz von 1992 konnte jeder Mensch Berufsbetreuer werden – mit der Reform von 2023 ist das zwar immer noch so, aber es muss zuvor eine sehr anspruchsvolle und auch kostenintensive Prüfung abgelegt werden. Befreit davon sind allerdings Juristen und Sozialarbeiter. In einem kurzen Exkurs beschrieb Herr Schieferdecker die Situation in der BRD von 1945 bis weit in die 80-iger Jahre hinein, als es die Entmündigung noch gab. Es wurden Menschen aus vollkommen subjektiven Gründen (z.B. „Unordentlichkeit“ oder „Unangepasstheit“) und ohne wirkliche rechtliche Prüfung entmündigt und viel zu oft auch für Jahre in der Psychiatrie untergebracht.
Herr Schieferdecker hob besonders eine Änderung der Reform hervor: Bisher war formuliert, dass der Wunsch und das Wohl des betreuten Menschen im Mittelpunkt der Überlegungen und Entscheidungen zu stehen habe. Nun hat der Gesetzgeber das „Wohl“ gestrichen, da es zu subjektiv ist und zu sehr der Interpretation des jeweiligen Betreuers unterworfen. Die Selbstbestimmung und die individuellen Bedürfnisse sollen der Maßstab sein und es soll sich bei der Tätigkeit in der Betreuung um eine „Stellvertretung bei Erforderlichkeit“ handeln. Als Beispiel nannte er die Kontoüberziehung: Sehr viele Menschen überziehen regelmäßig ihre Konten und es gibt keinen Grund, dies einem Menschen, der unter Betreuung seiner finanziellen Angelegenheiten steht, grundsätzlich zu verweigern, solange nicht die absolut notwendigen Lebensgrundlagen (z.B. Wohnung, Essen) dadurch gefährdet werden. Ausnahme davon bildet das „Schutzprinzip“ bei Selbst- oder Fremdgefährdung.
Die Reform hat auch zum Ziel, rechtliche Betreuungen überhaupt zu vermeiden – auch aus Kostengründen, das Ehrenamt zu stärken und Hilfestellungen von anderer Seite – auch von Behördenseite z.B. beim Ausfüllen von Formularen – zu fördern. Gewollt ist auch die sogenannte „unterstützende Entscheidungsfindung“ durch den Betreuer: der Klient soll z.B. das Ausfüllen eines Antragsformulares erlernen, im Idealfall bis hin zur Selbstständigkeit. Dies ist leider aufgrund der knappen zeitlichen Ressourcen nicht realistisch für einen Berufsbetreuer. Der Merseburger Betreuungsverein unterstützt aus diesem Grund nach Kräften die ehrenamtlich tätigen Betreuer – meist sind das die Angehörigen.
Übelkeit, Erbrechen, maligne abdominelle Obstruktion: Therapeutische Optionen, medikamentöse und nicht-medikamentöse Therapieoptionen bei diesem komplexen Symptombild - Christian Schmidt-Werthern
Nun stellte Dr. Schmidt-Werthern ausführlich ein Fallbeispiel vor. Es handelte sich um einen Patienten, der von 2019 bis 2024 am Klinikum palliativ wegen zwei Tumoren am Verdauungstrakt behandelt wurde. Der Patient wollte keine Bestrahlung oder Chemotherapie. Aus diesem Grund wurde er mit einem palliativmedizinischen Ansatz über die Jahre etwa sechs Mal minimalinvasiv dort operiert, wo sich jeweils ein Verschluss gebildet hatte. Vor allem konnten jeweils Stents gelegt werden. Diese OP-Methode war jeweils so schonend und erfolgreich, dass der Patient immer nur maximal drei Tage im Krankenhaus sein musste und auch jeweils sehr rasch wieder beschwerdefrei war. In den Monaten und auch Jahren zwischen den Eingriffen konnte er ein fast normales Leben führen.
Beim letzten Eingriff, der endosonografisch gestützten Gastroenterostomie, handelt es sich um ein ganz neues Verfahren, das sehr schonend ist, wenn auch nicht für jeden geeignet. Dr. Schmidt-Werthern zeigte zu seinem Vortrag Grafiken und etliche Videodokumentationen der Operationen, die deutlich machten, wie man sich die Eingriffe vorzustellen hat. Angenehm war, dass Dr. Schmidt-Werthern sich bei aller Begeisterung für diese „technischen“ Möglichkeiten als ein mitfühlender Arzt zeigte, für den das Wohl des Patienten die oberste Priorität hat.
Nach diesen beiden Vorträgen konnten wir uns in einer mit viel Kuchen versüßten Kaffeepause wieder im Sonnenschein erholen und über das bereits Gehörte austauschen.
Das Konzept der 'Double Awareness' und mögliche Unterstützungen - Prof. Elisabeth Jentschke
Die Referentin führte aus, dass die Biografie eines Menschen und sein soziales und familiäres Umfeld entscheidend dafür sind, wie eine Diagnose, die mit der Aussage „palliativ“ einhergeht, verarbeitet werden kann. Die widerstreitenden Gefühle von einerseits Angst, Hoffnungslosigkeit und Demoralisierung und andererseits dem Wunsch, zu leben und die verbleibende Zeit zu genießen und zu nutzen, stellen die Patienten selber, aber auch Angehörige, Ärzte und Pfleger oftmals vor große Herausforderungen. An einem Beispiel beschrieb Frau Dr. Jentschke, wie ein Stationsteam unter Umständen „erwartet“, der Patient möge doch vor allem seinen nahenden Tod akzeptieren und Regelungen treffen. Der Patient selber andererseits schmiedet Zukunftspläne wie die Entlassung aus der Klinik oder eine kleine Reise.
Das Konzept der „Double Awareness“ kann dem Patienten und ebenso den Angehörigen, Freunden und Pflegern dabei helfen, lebenszugewandt zu bleiben und sich dennoch auf das Sterben und den nahenden Tod vorzubereiten. Und dann wird dieser „Zustand“ der „Double Awareness“ auch nicht mehr als Schwäche erlebt.
Frau Dr. Jentschke betonte, wie wichtig in diesen Situationen eine achtsame und zugewandte Kommunikation ist, durch die das hohe Krisenpotential abgefedert werden kann, das solche Diagnosen mit sich bringen. Sie führte das sogenannte ABCD-Konzept ein: Attitude (Achtung) – Behavior (Verhalten) – Compassion (Mitgefühl) – Dialogue (Gespräch). Hoffnung kann durch achtsamkeitsbasierte Interventionen gestärkt werden und dadurch, dass alle lernen, mit diesen Ambivalenzen umzugehen und sie auszuhalten. Dann kann auch mit Erleichterung die Verleugnung des Wissens um die verkürzte Lebenserwartung abgelegt werden. Der befürchtete Verlust von Sinn und Lebenswillen muss nicht stattfinden und die Ambivalenz der „Double Awareness“ wird nicht mehr als Sackgasse erlebt, sondern als Hilfe.
Zum Schluss gab sie uns noch Worte von Hilde Domin mit auf den Weg: „Jeder, der geht, belehrt uns ein wenig über uns selber.“ Kostbarer Unterricht an den Sterbebetten.
Vorstellung und erste Erfahrungen aus dem Tageshospiz Leipzig - Anna Mühle
Es ist möglich, an einem Schnuppertag das Haus kennenzulernen. Um ins Tageshospiz aufgenommen zu werden, muss man sich mindestens im Rollstuhl fortbewegen können. Bisher sind die Gäste eher jünger, zwischen 40 und etwa 60 Jahren alt, die Auslastung betrug im August erstmals 50%. Therapien wie z.B. Physiotherapie werden auf Rezept angeboten und pflegerische und palliative Maßnahmen sind möglich, und wenn der Gast bereits vom SAPV-Team betreut wird, kann auch ein Arzt hinzugezogen werden.
Der nächste Palliativfachtag ist für den 10. September 2025 geplant. Wir bedanken uns ganz herzlich für diesen inhaltsschweren Tag und die wieder großartige Organisation und freuen uns schon auf das nächste Jahr!
Bettina Jacobi, ehrenamtliche Hospizbegleiterin am Hospizverein Leipzig e.V.